Category: News - 2011.04.11

Etel Adnan: Jahreszeiten

Etel Adnan: “Jahreszeiten”
Etel Adnan: “Jahreszeiten”


Deutsche Erstausgabe
Gebunden mit Schutzumschlag, 128 Seiten, illustriert mit Bildern und Fotos

ISBN 978-3-89401-753-8
amazon.de/3894017538
Erschienen Mai 2012

http://edition-nautilus.de

Weitere Titel von Etel Adnan in der Edition Nautilus,
übersetzt und mit Nachwort versehen von Klaudia Ruschkowski:

  • Die Sonne zergeht auf der Zunge
  • Reise zum Mount Talmapais
  • Von Frauen und Städten
“Jahreszeiten” ist ein Gang mit der Sonne in vier Etappen, eine Suche nach dem, was hinter dem wechselnden Wetter der Geschichte, der politischen Entscheidungen, der Katastrophen und des eigenen Ichs verborgen bleibt: “Sein ist ein Vorgang, nach dem wir suchen, während er sich ereignet. ” Etel Adnan fächert ihre Persönlichkeit unter verschiedenen Blickwinkeln auf und übergibt sie als Welt für sich der Wahrnehmung des Lesers.

“Denken heißt nicht, über etwas nachsinnen, sondern Zeugnis ablegen.” Diesen Satz stellt Etel Adnan ihrem jüngsten Text voran. Es geht um Wahrnehmung all dessen, was unser Leben ausmacht: Momente des Alltags, Form und Funktion von Gegenständen, die Natur in ihren Veränderungen, Gefühle und Befindlichkeiten, Blicke auf andere Menschen, Einblicke in sich selbst – aber auch um die Gewissheit, in einen Zusammenhang eingebunden zu sein, der über das Sichtbare hinausgeht, der die Gegenwart dort justiert, wo sie sich befindet: im Raum, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Etel Adnan spricht von Universum und Geschichte und eröffnet eine neue Ebene der Wahrnehmung, die unser Leben in einen historischen, metaphysischen und spirituellen Kontext stellt – vermittelt durch Sprache, durch den Wechsel von Tonarten, durch den spezifischen Klang. Nur so kann ein Satz zu einem Gedanken werden, der es vermag, “Zeugnis abzulegen”.

Biographisches

Etel Adnan, Tochter einer christlichen griechischen Mutter und eines muslimischen syrischen Vaters, wurde 1925 in Beirut geboren. Sie wuchs in einer vorwiegend arabischen Gesellschaft auf, sprach zu Haus griechisch und türkisch, wurde aber in einer französischen Schule erzogen. Mit 24 Jahren ging sie nach Paris, wo sie an der Sorbonne ihren Abschluss in Philosophie machte. Anschließend kam sie in die USA, setzte ihre Studien an der University of California, Berkeley, und an der Harvard University fort und unterrichtete bis Mitte der siebziger Jahre „Philosophy of Art“ am Dominican College in San Rafael, Kalifornien.

Seit den sechziger Jahren veröffentlicht Etel Adnan Gedichte, Prosa, Essays und Theatertexte in englischer und französischer Sprache, präsentiert ihre Bilder, Zeichnungen und Künstlerbücher in Ausstellungen.

2012 war sie mit einem eigenen Raum auf der dOCUMENTA (13) vertreten.

Sie lebt in Paris, in Sausalito Ca., in Beirut und auf der griechischen Insel Skopelos.

http://eteladnan.com


Aus dem Gespräch mit Etel Adnan
Paris, 19. Dezember 2011

KR Wittgensteins Satz „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, beantwortete Pasolini mit „Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man ein Gedicht schreiben“.

EA Ich denke, Pasolini hat etwas sehr Richtiges gesagt. Warum haben wir die Dichtung? Und sie ist keineswegs neu, im Gegenteil, sie ist die älteste Kunst, in jeglicher Zivilisation, schon vor der Malerei. Die Poesie – Tanz und Gesang auch – ist eine elementare Form der Kunst. Du drückst nicht nur funktionale Dinge aus, nein, du willst etwas ausdrücken, das sich beinahe unmöglich sagen lässt. Also sagen wir es poetisch, wir schreiben ein Gedicht. Was verstehen wir unter Dichtung? Im Grunde wissen wir es nicht. Wir tun es einfach. Louis Armstrong wurde gefragt: Was ist Jazz? Er sagte: Ich weiß nicht, was das ist. Ich spiele Jazz. Genauso schreiben wir Poesie. Es ist das, was wir schreiben, wenn wir uns in einem bestimmten geistigen oder seelischen Zustand befinden. Nicht in dem normalen Zustand, wo wir innehalten und denken. Wir wollen losgehen … aber nicht notwendigerweise philosophisch, sondern frei. Wir wollen keine sachlichen Informationen in Worte fassen, sondern Informationen verbunden mit Emotionen, mit emotionalem Nachdenken.

KR Du sagtest, dass du die Poesie als Schub empfindest, du beschließt nicht, dich hinzusetzen und deine Gedanken aufzuschreiben, sondern sie kommen über dich, sie überwältigen dich regelrecht.

EA Ja, so ist es. Ich schreibe Poesie nicht, indem ich mich an den Tisch setze und mir sage: Jetzt schreibe ich ein Gedicht. Es ist ein Gemisch, viele Dinge kommen in einem Satz zusammen, und ich spucke ihn aus, ich schreibe ihn sofort auf, denn wenn ich warte, manchmal nur ein, zwei Minuten, verliere ich ihn. Poesie ist impulsiv, du kannst nicht die ganze Zeit über Gedichte schreiben. Poesie ist dringend. Du musst diesen Gedanken hier erwischen, diesen Satz, der nicht nur über die Dinge selbst spricht, sondern darüber, wie du sie empfindest, was du über sie denkst. Oder über etwas ganz anderes, was plötzlich auftaucht. Wie es Heidegger ausdrückt: Realität kommt an die Oberfläche. Und was du poetisch sagst, scheint fast von allein aufzutauchen, du ergreifst es, du stellst es nicht her.

KR Deine Dichtung hat keine spezielle Form, keine Reime, sie hat ihren eigenen Fluss, sie scheint mir eher eine Art von Meditation.

EA Es gibt viele Herangehensweisen, und sie alle sind kulturell bedingt. Heute schreibt man nicht mehr in Reimen… Was nicht heißt, dass Reime schlecht wären, es gibt großartige Dichtung in Reimen, vielleicht sogar die beste. Der Reim war wichtig, um die Gedichte auswendig zu lernen, und heute lernen wir nicht mehr auswendig, wir lesen. Deshalb brauchen wir keine Reime mehr. Reime wurden auf dem Theater gebraucht, um die Texte besser behalten zu können. Und der Reim hat seine eigene Schönheit, die Wiederholung. Aber wir kommen auch zu einer Wiederholung ohne den Reim. Heute schreiben wir mehr und mehr in freien Formen, so dass Dichtung kein Stil mehr ist, sondern zur Essenz wird, zu diesem Besonderen, das du nur ab und zu ausdrücken kannst. Das betrifft auch ganz einfache Dinge wie „ein Stück Brot liegt auf dem Tisch“ – auch das kann Dichtung sein. Du siehst, es ist eine seltsame Sache, es hängt davon ab, wann du es sagst und wie, es kommt auf den Kontext an, selbst wenn es für sich steht.

KR Dichtung also als eine Form der Wahrnehmung.

EA Ja, Dichtung entsteht und geht über Wahrnehmung. Etwas – das ist ein anderer Aspekt von Dichtung –, das Teil deines täglichen Lebens ist. Wenn dieses Etwas aus dem normalen Zusammenhang gelöst wird und du darauf reagierst… Zwei Leute lesen dieselbe Zeile, einer wird sagen: das ist Dichtung, der andere: nein, das ist reine Information. Gewiss handelt es sich um Information, in beiden Fällen, aber es gibt unterschiedliche Reaktionen. Auf einmal siehst du ein Stück Brot auf einem Tisch. Und du siehst es wie ein Bild von Magritte oder Dalì, es ist dasselbe, oder wie die Äpfel von Cézanne. Poesie isoliert einen Gegenstand und macht ihn mysteriös.

KR Die Poesie, ja, aber auch die Malerei, und in deinem Fall auch die Philosophie. Eine Mischung, so kommt es mir vor. Wenn du malst oder zeichnest, machst du Poesie und du philosophierst auch, wenn du ein Gedicht schreibst, ist das auch eine Art von Malerei, von philosophischer Betrachtung.

EA Denk daran, dass sich in Europa seit Nietzsche die Philosophie – das, was wir Philosophie nennen – verändert hat. Nietzsche war ein großer Dichter. Nicht, wenn er Gedichte schrieb. Aber jedes seiner Bücher ist auch Dichtung. Wenn du „Ecce Homo“ liest, dann stellst du fest, dass es sich um ein lyrisches Stück handelt und um Philosophie. Die Grenzen zwischen Poesie und Philosophie sind zu einem großen Teil hinfällig geworden. Warum? Wegen des Gegenstandes, der behandelt wird. Ein Gedicht sprach meist von der Natur, es beschrieb die Natur, oder es drückte Gefühle aus, Liebe, Verzweiflung, Angst. Aber warum sollte Dichtung keine Ideen zum Ausdruck bringen? In diesem Fall wird sie Poesie-Philosophie zugleich. Wie eben bei Wittgenstein. Wittgenstein ist ein Philosoph, ein Mathematiker und hatte in den vergangenen dreißig Jahren den größten Einfluss auf Dichter. Wir haben also entdeckt, dass Denken dieselbe Reaktion auslöst, die wir der Schaffenskraft der Poesie zuschreiben…