Category: News - 2013.01.10

Wolfgang Storch: Brief an Peter Handke

Anlässlich der Inszenierung Dimiter Gotscheffs von „Immer noch Sturm“

Dimiter Gotscheff
Dunkel das uns blendet

Theater der Zeit
Arbeitsbuch 2013 | Heft Nr. 7/8

Herausgegeben von Dorte Lena Eilers, Claus Caesar und Harald Müller

http://theaterderzeit.de

Lieber Peter Handke,

„Immer noch Sturm“ sah ich letzten Sommer als Gastspiel des Thalia-Theaters im Deutschen Theater Berlin – ein Jahr nach der Salzburger Uraufführung. Jens Harzer, der Sie selbst in Ihrer eigenen Verwandlung als „Ich“ anwesend sein lässt, führte den Chor der Schauspieler, die als „Vorfahren“ das nachgeborene „Ich“ suchten. Alle durchdrungen von der Wirkung, die die von Dimiter Gotscheff erarbeitete Aufführung erfahren hatte. Der Abend eine reife Frucht, vier Stunden, und ich wollte nicht, dass er aufhört. Ein singuläres Ereignis, ein Gleiches der Text und die Aufführung. „Endlich“, sagte Angela Winkler. Aus dem behutsamen Gespräch des „Ich“ mit seinen Vorfahren eröffnete sich die Tragödie der in Kärnten einheimischen Slowenen, ausgeliefert dem Vorgehen von Wehrmacht und SS im Zweiten Weltkrieg und nicht endend den Ausgrenzungen im Kalten Krieg. Die Gegenwart macht es notwendig, die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Die Toten drängen auf die Bühne. Leise rufend, leise gerufen.

Die Aufführung traf mich mitten in der Arbeit an einem Buch über die deutsche Okkupation Italiens, über den Aufbruch in beiden Ländern nach dem Krieg, den Gang durch die Jahrzehnte, den Kalten Krieg, die immer neue Arbeit an einer Sprachfindung, gewonnen aus der Erfahrung tiefster Erniedrigung, des Kampfes gegen sie, gewonnen aus dem Erinnern, um einzuwirken auf eine Wandlung der Gesellschaft. Ich war getroffen durch Ihre Einkehr in die Zeit, als Sie und ein Jahr später ich auf die Welt kamen für eine Welt nach der Zerstörung. Die Rückkehr heute in diese Zeit befragt unser Leben, den eigenen Einsatz. Die Aufführung bestärkte mich in der Weiterarbeit an dem Buch, das ich als Lebensbogen verstehe. Nun ist es erschienen, und ich schreibe Ihnen. Ein Brief als Selbstverständigung über die befreiende Wirkung dieses Ereignisses.

1967, am Anfang, trafen wir uns einmal. Henning Rischbieter und ich kamen aus Hannover, holten Sie in Düsseldorf ab, und wir fuhren nach Paris: in Rischbieters Pallas, er selbst im Fond, Sie auf dem Beifahrersitz, am Steuer ich. Zu Ihren Füßen lagen Lehrbücher für Verhaltensregeln – Sie exzerpierten Material für das Stück „Kaspar“, von dem Sie später sagten, es könne auch „Sprechfolterung“ heißen. Es blieb bei dieser einen Begegnung, aber Sie blieben ein ferner Bezugspunkt, kaum vertraut und doch versichert durch die immer wieder auftauchende, berührende Nähe Ihrer Arbeiten, die andere Seite, die es braucht, alterslos gemeinsam alternd. Paris wurde Ihre Stadt. Mich zog es aus München nach Berlin zurück, wo ich geboren worden war. Meine erste Theaterarbeit dort, 1975 angekommen, galt dem Kriegsende in Berlin, im Zentrum „Das Laken“ von Heiner Müller. Ihm blieb ich verbunden. Durch ihn lernte ich bald Gotscheff kennen. Seit 40 Jahren inszeniert er Stücke von Heiner Müller – als einziger kontinuierlich, treu, sich immer neu an einer Befragung der nahen und wieder fremden Texte abarbeitend. Was er inszeniert, er überformt es nicht, er dient – da ihn der Text wie die Figur interessieren – dem Dichter wie dem Schauspieler. Dass er „Immer noch Sturm“ inszenierte, schlug eine Brücke.

Gotscheff, ein paar Monate nach Ihnen geboren, stammt aus Thrakien, aus den Rhodopen, aufgewachsen an den Ufern der Mariza, in den die rasenden Mänaden den abgerissenen, immer noch „Eurydike“ rufenden Kopf des Orpheus geworfen hatten. Bei Benno Besson und Fritz Marquardt, die beide eine Theatersprache für Müllers Texte suchten, hatte er sein Regiehandwerk gelernt und war dann 1978 nach Bulgarien zurückgekehrt. Dort zeigte er Müllers „Philoktet“ am 12. Dezember 1982 im Dramatischen Theater Sofia mitternachts vor leerem Zuschauerraum, die Zuschauer seitlich auf der Bühne. Er hatte das Angebot der Direktion für die Inszenierung des eigentlich verbotenen Stückes akzeptiert: die nackte Bühne ohne Technik ab 11 Uhr nachts für die Proben wie für die Vorstellung. Und gerade unter dieser Bedingung wurde die Tragödie Gegenwart: die gähnende Weite, die Geräusche der Nacht, das Wandern der Ratten – die Ägäis, die Insel Lemnos die Drehbühne. Disposition eines sich durch Verbannung sichernden, die Gesellschaft ihrer Kräfte beraubenden, sich selbst entleerenden Machtapparates. Die Schauspieler entdeckten „ihre Biographien in dem Text“, berichtete Gotscheff: „Das war ökonomisch gespielt, aber mit einer ungeheuren Vitalität. Ich glaube, das war das Wesentliche damals, in einem sozialistischen Land: die Energien aus seinem Text zu gewinnen. Müller war ziemlich erschüttert.“ Er schrieb Gotscheff einen Brief. Eingelöst war für ihn, was Hölderlin mit der Arbeit an „Ödipus der Tyrann“ zu erreichen gesucht hatte: „die Transformation der Fabel vom Stellplatz der Widersprüche zur Zerreißprobe für die Beteiligten, den Widerstand der Körper gegen die Notzucht durch den Sachzwang der Ideen, das WORT DAS MORD WIRD“. Ein Gleiches: Hölderlins wie Kleists Heraustreten aus dem Kanon der Weimarer Klassik wie Müllers aus der Ästhetik Brechts, der gleichwohl mit dem Berliner Ensemble einen Gegenort zum Hof der Partei, ein Forum der Verständigung über den Weg der Partei geschaffen hatte. Dass die Bühne Austragungsort der einander widersprüchlichen Erfahrungen der Einzelnen unter den Nationalsozialisten und nun gegenüber den Funktionären der SED wird, daran arbeitete Müller von Anfang an mit seinen Texten, auf die Regisseure wartend. Gotscheff realisierte es. Er führte die Schauspieler in ein Gespräch mit dem Text. Sie sollten sich nicht vornehmen, eine Rolle, einen Charakter zu spielen. Sie sollten den Text auf sich zukommen lassen, in ihn hineinhorchen, ihn entdecken, nicht besetzen, auf eigene Erfahrungen stoßen, einmal Erlittenes, tief Liegendes öffentlich vor der Leere, vor der abwesenden Gegenwart der Macht bezeugen. Der Text wurde zur „Zerreißprobe“. Müller schloss seinen Brief an Gotscheff: „Wenn die Diskotheken verlassen und die Akademien verödet sind, wird das Schweigen des Theaters wieder gehört werden, das der Grund seiner Sprache ist.“ Den Satz las Gotscheff zwanzig Jahre später in einer Heiner Müller Werkstatt vor: „weil ich ihn nur manchmal verstehe. Mir ist es wichtig, etwas dazu zu hören.“ Die beim Lesen über das Gesicht gefallene silbergraue Mähne schob er, den Kopf hebend, zurück. „Ich hatte eine Begegnung mit Müller, die einen Riss hinterlassen hat. Bei einem Besuch bemerkte ich, dass er aufgeregt war. Er gab mir etwas zu lesen – ein Gedicht von Inge Müller. Er sagte: ‚Lies den Schluss noch einmal. ‚Die Wahrheit leise und unerträglich‘ – das könnte Programm für ein Theater sein.‘ Vielleicht kann ich so den Bezug herstellen.“

Einen Monat vor seinem Tod schrieb Heiner Müller das Gedicht „Drama“:

Die Toten warten auf der Gegenschräge
Manchmal halten sie eine Hand ins Licht
Als lebten sie. Bis sie sich ganz zurückziehn
In ihr gewohntes Dunkel das uns blendet.

Ich lese, dass Sie „Immer noch Sturm“ zuerst als Tragödie in fünf Akten konzipiert hatten. Erkennbar noch in der Einteilung des Textes in fünf Kapitel. Die Tragödie als Form der Griechen wie Shakespeares gilt der Hybris des der Macht verfallenen Helden. Die Tragödie einer Gruppe von Menschen in einem Volk, die erreichten, wofür sie gekämpft hatten, ihrer Kraft zur Selbstbestimmung vertrauten, doch verraten und ausgegrenzt worden sind, entdeckt sich in den Zeugnissen, im Gespräch mit ihnen, im Lesen der Berichte, der Briefe aus dem Krieg. Die Form, die Sie gefunden haben, um diesen Zeugnissen die für die Betroffenen wie für die Gesellschaft notwendige Öffentlichkeit durch das Theater zu verschaffen, hat mich begeistert: die Zurücknahme der verführenden Dialoge in eine Erzählform, das Auffangen der erzählten wie geschriebenen Berichte von dem Erlebten, Durchlittenen, des nicht Hinzunehmenden als dem „Ich“ zur Übermittlung anvertraute Zeugnisse, denen Sie durch die Unterlegung mit christlichen und mythologischen Zitaten, Kommemorationen von Konstellationen, wie sie unbemerkt, erst im Nachhinein erkannt, im Leben aller wirken, nun aber merklich-unmerklich geführt, ein inneres Leuchten geben, damit sie sich, Ihr Wort, „offenbaren“. Und in diesem Sinn ergänzen Sie den Haushalt Ihrer Vorfahren, weiten ihn mit den Erfahrungen derer, die an dem Widerstand Ihres Volkes als einzige Partisanen innerhalb der Reiches teilgenommen haben, zum Kosmos.

Sechs, nein sieben Personen kommen auf die Bühne, um ihren Autor in ihrem Nachgeborenen zu treffen, dass er ihnen die Sprache verleiht, damit ihnen durch sie Gerechtigkeit widerfährt. Sie wissen, dass er sich darum seine Sprache erarbeitet, sie gefunden hat, da er dies als seine Bestimmung begriffen hat. „So gedenke ich euer, und denke umgekehrt von euch mich gedacht.“ Ein Raum der Begegnung des „Ich“ mit den Vorfahren, mit sich selbst, der Vorfahren mit sich selbst gegenüber dem „Ich“ in der Wiederholung der aufgehobenen Zeit – ein Raum, in dem die Erinnerungen, übermittelt an das „Ich“, der sie aufschreiben soll, an Sie, der sie transponiert, ein Wandlung erfährt – und noch einmal durch die Übergabe, welche die Schauspieler, eigene Erfahrungen aufrufend, durch ihren Körper, ihre Sprache leisten. „Unsere Sprache, unsere Macht“, sagt Gregor, der Onkel, der zu den Partisanen gegangen ist und nun am Tag des Sieges, dem 8. Mai, zurückkehrt. „Jenseits der Sprache bricht die Gewalt los. Höchste Gewalt tötet die Sprache, und mit ihr den Einzelnen, dich und mich.“ Hölderlins Erfahrung: „das Wort das Mord wird“. Was Heiner Müller dargestellt wissen wollte, Sie schaffen dem Terror, der Folterung Gegenwart auf der Bühne durch den aus der Erinnerung hochgeholten Bericht an den Nächsten: wie es auf Sie, den Nachgeborenen, zugekommen ist – mit Ihrer Erfahrung von den anhaltenden Folgen durch die Jahrzehnte. Bald nach dem 8. Mai wurde die Unterdrückung des Slowenischen im Auftrag der englischen Besatzungsmacht wieder fortgesetzt durch die, die es schon im Reich taten, damit den Partisanen, ihrem Kampf gegen Wehrmacht und SS, die Anerkennung verweigert, ihr Anspruch auf Autonomie missachtet. „Zehn Tage lang der warme, warme Frieden, und dann der kalte, kalte Krieg – der andauert.“ Ihr Text ist ganz aus der Veranlassung, der Not der Betroffenen, der Vorfahren wie des „Ich“, in seiner Erzählform ein das Theater neu aus der Sprache, die Sprache selbst als Einspruch konstituierendes Stück geworden.

Sprachfindung war für mich das Wort, um den Aufbruch aus Diktatur und Krieg in Italien und Deutschland zu manifestieren. Die Dichter, Maler, Filmregisseure verstanden als diejenigen, die eine Vorgabe leisten. Wie kann das, was die Deutschen unter der nationalsozialistischen Führung – und die sich dem Regime von Salò unterstellenden Italiener, die Nazifaschisten – verbrochen haben, erzählt werden, dass es fruchtbar wird für eine Gesellschaft danach. Mit dem Wissen: Der Schoss ist fruchtbar noch. Wer wollte von der nicht vorstellbaren Erniedrigung, dem Vernichtungskrieg, von der industriellen Tötung der Juden, Roma, Sinti, slawischer Volksgruppen hören. Natalia Ginzburg musste Primo Levi erklären, warum der Verlag Einaudi, dem sie beratend angehörte, sein Buch über Auschwitz „Ist das ein Mensch“ nicht drucken wollte. Doch gab es in Italien den Aufbruch der Künstler, die zum großen Teil an der Resistenza teilgenommen hatten: im Zeichen eines Neorealismo. Er ist nicht als Stil zu verstehen, sondern als Aufgabe, denen die Stimme zu geben, welche die Opfer waren und es wieder wurden. Ein Aufbruch, der als eine Renaissance zu verstehen ist, Arbeiten zur Neukonstituierung der Gesellschaft. Versichert in den überlieferten Formen, wie es die Renaissance geleistet hatte, nun aber, um den Dargestellten einen Fond zu geben, auf dem sie sich, frei von jeder Überformung, in ihrer eigenen Größe zeigen. Wie Sie es machen, den Widerstand als eine Basis nehmend. Der Kalte Krieg domestizierte den Aufbruch, kanalisierte die Kräfte im Interesse einer Restauration, die Aufarbeitung der Vergangenheit wurde zurückgestellt. Was in den Jahren geschah, als wir auf die Welt kamen, kehrte darum als Herausforderung an die Gegenwart immer wieder ein. Die Fragen nach der nationalsozialistischen Vergangenheit wird jede kommende Gegenwart wieder neu stellen. Die Sprachfindung der Dichter wird sich dann daran neu erweisen. Noch leben Zeitzeugen. Wie werden die Dichter die Befragung fortsetzen. Müllers Aufforderung folgend: „der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist.“

Ein „Traumspiel“ – als Gang zu den Menschen, eine „Zeitreise“ des Nachgeborenen zu den Gestorbenen, als poetischer Raum der Begegnung mit ihnen ein realer Raum des Austausches, der Befragung, der Klärung, der Reinigung. Gegen das Vergessen: „Das merken und nicht vergessen!“, sagt Gregor seinem Patenkind, dem „kleinen Träumer“, dem ein Jahr alten „Ich“, der einzulösende Auftrag an ihn – „ein gutes und schlechtes halbes Jahrhundert nach dem Hier und Jetzt“. Was unsere Generation bewirkt haben mag, und der Aufbruch von 1968 hatte in all seiner Unterschiedlichkeit und seinen Korrespondenzen mit jeweils eigenen Veranlassungen in anderen Ländern seine Schönheit, einen Glanz für kurze Zeit: auch er wurde kanalisiert, die Restauration stärkte sich erneut und höhlte wieder die Gesellschaft aus. „Seltsam“, konstatiert das „Ich“, „dass der Umriss der Verblichenen so viel dauerhafter ist als der der Heutigen.“

Sie nannten das Stück einen „Sturm gegen die Geschichte, gegen die Geschichte als Fortschrittskategorie“. Den Titel „Immer noch Sturm“ nahmen Sie, lese ich, nach einer Regieanweisung zur zweiten Szene des dritten Aktes von „König Lear“: „Storm still“, als Kürzel für die Arbeit „SS“. Darin ist die Wut eingeschrieben.

In der Szene fordert Lear, „arm, elend, siech, verachtet“, auf der Heide allein mit dem Narren den Sturm auf: „vernicht auf eins / Den Schöpfungskeim des undankbaren Menschen“, nennt „Regen, Wind, Blitz, Donner“ „knecht’sche Helfer“ „im Bund mit zwei verruchten Töchtern“.

Die Heide auch Ihre Szene jetzt: „Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo. Jetzt im Mittelalter, oder wann. Was ist da zu sehen? Eine Sitzbank, eine eher zeitlose, im Mittelgrund, und daneben oder dahinter oder sonst wo ein Apfelbaum, behängt mit 99 Äpfeln, Frühäpfeln, fast weißen, oder Spätäpfeln, dunkelroten.“ Ein gehegtes Paradies, geduckt behaupteter Schutzraum durch Jahrhunderte seit dem Mittelalter. Der Sünde nie verfallen, kommen die „99 Gerechten, die der Buße nicht bedürfen“, (Lukas 15.7) ins Paradies. Um sein Haus zu schützen – „ohne Haus sind wir nichts“ – will der Großvater zwei Worte nicht hören: Tragödie und Liebe. Doch der Sturm hat eingesetzt, der über den Schutzraum hinwegfegen wird. Seine Tochter Ursula hat begriffen, dass mit dem Einzug von Wehrmacht und SS der letzte Akt der Geschichte des slowenischen Volkes in Kärnten begonnen hat. Sie fragt: „Wenn unsere Geschichte keine Tragödie ist – was dann?“ Er wehrt ab: „In unserem Haus ist kein Platz für eine Tragödie und kein Platz für eine Tragödin.“ Denn: „Das Passive, die althergebrachte, heißgeliebte, vielbesungene Leideform, was hat die denn Tragisches? Unsere Geschichte hier kennt keine Tragödie. Tragödie setzt voraus: Aktivgewordensein, Aktivwerden, so oder so. Und unsere Natur war seit jeher antitragisch und demgemäß mit der Zeit auch gegen das Handeln.“ Als der Großvater erfährt, dass seine andere Tochter mit einem deutschen Soldaten geht, stellt er sie zur Rede. Sie bekennt: „Ich liebe ihn.“ Er: „Das Wort will ich nicht gehört haben. Noch niemand hat bisher bei uns hier von Liebe geredet. Und solange ich zu bestimmen habe, soll auch niemand hier so ein Wort in den Mund nehmen dürfen, Liebe nicht und nicht ljubezen.“ Sie öffnet den Mantel, zeigt den Bauch. Dem „Ich“ ruft sie zu: „Schau, da in meinem Bauch: du!“ Zu allen: „Die Liebe: meine Bestimmung. Und etwas Schöneres als meinen Bauch hat unser Jaunfeld nur zu allen heiligen Zeiten gesehen!“ Der einsetzende Sturm treibt in die Tragödie. Er treibt in die Liebe, die sich ihm widersetzt, die ihm widersteht.

Keine zwei Monate nach der Geburt des „Ich“ kapituliert die 6. Armee in Stalingrad, der Krieg kehrt in das Reich ein, von dem er ausgegangen ist. Wehrmacht und SS stehen als Feind im eigenen Land. Ursula geht zu den Partisanen und nennt sich „Snezena“, die Schneeige. Gregor, der Obstbauer, folgt ihr. Und sie gibt ihm für seine Existenz als Partisan den Decknamen „Jonatan“ nach dem von ihm geliebten Apfel. Er wird vom Baum der Erkenntnis essen. Aus den Wäldern zurück mit leerem Rucksack, Proviant zu holen, erinnert er den Großvater daran, dass er den Kindern das „Ich“ ausgetrieben habe: „In diesem Haus kein Ich!“, hätte er gesagt: „In unserem Haus ist Patz einzig für wir und uns!“ So nun auch in den Wäldern: „Bei uns Kämpfern ist das Wort ‚ich‘ aus dem Wortschatz gestrichen.“ Die Schwester kehrt zurück. Zernichtet. Einer der ihren, ein Partisan, wurde von den Partisanen wegen mangelnder Disziplin, wegen einem Pfund Butter hingerichtet. Wer es befahl. „Wer ist unser Kommandant. Ratet. Nein, ratet nicht!“ Sie sagt es den Eltern: „dort, wo getötet wird, gleichwie, gehöre ich nicht hin.“ Ihre Mutter schickt sie zu den Partisanen zurück. Gregor kommt ohne Tarnung, er will aufhören. Während er vom Elend des Lebens der Partisanen „als Gespenster, als Tote, als Versprengte“ berichtet, fragt er: „Und ist dir aufgefallen, Vater, wie sehr ich mehr und mehr ‚ich‘ gesagt habe?“ Seine Ich-Werdung hat er erfahren. Seine Mutter schickt ihn zu den Partisanen zurück.

Das Patenkind des Partisanen aber, das Kind der Liebe, gezeugt in einer Nacht – „Und die zählt mehr als zehntausend andere“ – wächst vaterlos, ein Parzival, als „Ich“ auf.

Auf der Bühne ereignen sich die Begegnungen des „Ich“ mit den Vorfahren in einem Lichtraum von Katrin Brack: Aus einem kreisrunden Loch im Bühnenhimmel, sechs, sieben Meter im Durchmesser, fallen immerfort kleine Blätter. Grün wie der Apfelbaum, sanft wie Schneeflocken. Sagten Sie nicht einmal, wo, „schreiben“ und „schneien“ gehören für Sie zusammen. Im Fallen der Blätter entsteht ein vertikaler Lichthof, herausgelöst aus der Zeit, einem eigenen, dahingleitenden Zeitfluss überlassen, indem sich die zeigen und erklären, über die Krieg und Kalter Krieg hinweggegangen sind, vielleicht unter der Erde – doch höchst real ein Hof der Liebe, der Zärtlichkeit: der reine Fluss zwischen Vertrauten. Befreit von jeder Dekoration, keine Bank, kein Apfelbaum, nichts, was etwas bedeuten soll. Wenn alles Erinnerung ist und sich der Sprache versichert, dann genügt das Wort, das sich befreiende Wort, und der Baum steht da.

Den Schauspielern, denen Gotscheffs ganze Geduld zukommt, damit sie sich Ihrer Sprache, die aus der Musik kommt, überlassen können, dass sich die Zärtlichkeit noch im Konfront aus der Rhythmik der Wortfindung eröffnet, ihnen gesellte Gotscheff zwei Musiker hinzu. Müssten nicht die Schauspieler eigentlich slowenisch sprechen – die Musik von Sandy Lopicic, dessen Familie aus Sarajewo stammt, lässt sie sich, sie begleitend, in einem jugoslawischen Klangraum bewegen. Wenn die Partisanen, geübt im Chorgesang, noch in den Wäldern einander das Tanzen beibringen, damit sie dann zurückgekehrt feiern können und ihre Mädchen finden – all das, was Musik heißt und bewirkt, was der Orpheus-Nachfahre weiß, ist gegenwärtig in den Einsätzen von Sandy Lopicic selbst mit seinem Akkordeon und Matthias Loibner mit seiner Drehleier.

Der fünfte Teil kehrt aus dem Nachkrieg, dem langen Kalten Krieg, dem Krieg in Jugoslawien in die Gegenwart ein. Sie hatten ihn geschrieben als Wechselgesang zwischen dem „Ich“ der Liebe und dem „Ich“ des Widerstands. Aber es ist eben doch das eine „Ich“, das den Auftrag des anderen „Ich“, des Patenonkels, erfüllt hat und sich der Jetztzeit ausgesetzt sieht. Der grüne Schnee hat zu fallen aufgehört. Gotscheff lässt das „Ich“ allein auf der Bühne irren – in seiner Verzweiflung, seiner Liebe, in seiner Klage über den Verlust, Orpheus selbst. „Ich rufe euch aus den Gräbern zur Auferstehung.“ Seine Klage über die Gegenwart ist der Sturm der Liebe gegen den Sturm der Geschichte. „Es herrscht weiterhin Sturm. Andauernder Sturm. Immer noch Sturm. Geschichte: der Teufel in uns, in mir, in dir, in uns allen, spielt Gott, höchste Instanz, höchstes Prinzip. Und Summe des Unrechts wird Summe des Rechts.“

Ich danke Ihnen.

Wolfgang Storch
Volterra, 15. April 2013