Category: News - 2014.01.23

Etel Adnan: Arabische Apokalypse

Im allerletzten Lauf der Sonne
wird Feuer Tiere Pflanzen und Steine verschlingen
wird Feuer Feuer verschlingen und dessen vollkommenes Rund
wenn das vollkommene Rund Feuer fängt wird kein Engel erscheinen STOP
die Sonne wird Götter Engel und Menschen auslöschen
und sich selbst auslöschen inmitten ihrer Töchter
Geist-Materie wird NACHT werden
in der Nacht in der Nacht werden wir Erkenntnis finden Liebe und Frieden

1. Januar 2014 / 18:30 Uhr

Ursendung des Hörspiels

Arabische Apokalypse
von Etel Adnan

Aus dem Französischen von Ulrike Stoltz

Sprecherinnen: Etel Adnan, Meriam Abbas,
Cristin König, Tatja Seibt

Konzept und Textbearbeitung: Klaudia Ruschkowski
Realisation: 48Nord, Klaudia Ruschkowski,
Ulrike Brinkmann
Komposition: 48Nord
Ton: Thomas Monnerjahn

Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur
und Hessischem Rundfunk


Etel Adnans Arabische Apokalypse wird von der Sonne beherrscht: einer Sonne, die versengt, die gefrieren lässt, die nicht scheint, sondern gleißt, nicht beleuchtet, sondern zerreißt. Das griechische ἀποκάλυψις bedeutet „Enthüllung“. Die Sonne enthüllt, was auf dem Planeten geschieht, der durch sie existiert, dessen Gegenüber sie ist. Sie bringt es an den Tag, zieht außerhalb ihre Bahn, wird in Mitleidenschaft gezogen: Täter/Opfer/göttlich-universales Element zugleich. Sie war von Anbeginn, ohne sie ist Nichts, sie steht über den Dingen, gehört ihnen an, ist Gegenwart, wird sein – bis auch sie mit allem, was Leben ist, in einer gewaltigen Explosion zerbirst. Die Sonne als zentrales Element einer apokalyptischen Vision, die das Kommende aus dem Vergangenen und das Vergangene vom Zukünftigen her ins Licht setzt. Gott besitzt im Islam 99 Adjektive. Viele drücken Gewalt aus. Mit beinahe ebenso vielen Adjektiven bekleidet Etel Adnan die Sonne in den 59 Poemen ihrer Arabischen Apokalypse. Viele drücken Gewalt aus – aber auch Leid, Schmerz, Trauer, Ekel, Wut, Krankheit. Die Sonne erscheint in den Farben des Prismas auf dem Negativ von Schwarz und Weiß.

Etel Adnan, Arabische Apokalypse, Seite 1
Etel Adnan, Arabische Apokalypse, Seite 1

Im Zentrum der entfesselten, der apokalyptischen Gewalt, die Etel Adnan in der „Arabischen Apokalypse“ zum Ausdruck bringt, steht das Massaker von Tel al-Zaatar im zweiten Jahr des bis 1990 andauernden Libanesischen Bürgerkriegs. Im Lager auf dem „Thymian-Hügel“ im Nordosten Beiruts waren zwischen 50.000 und 60.000 palästinensische Flüchtlinge untergebracht. Mehr als 3000 Menschen starben während der monatelangen Beschießung oder wurden am 12. August 1976, als das Lager schließlich fiel, getötet. Tel al-Zaatar ist Synonym für Raserei, Grausamkeit und Ignoranz, für eine Zerstörungswut, die sich gegen den eigenen Bruder und damit gegen sich selbst richtet. Die Araber, sagt Etel Adnan, geben keine Niederlage zu. „Der libanesische Bürgerkrieg dauerte 15 Jahre, weil keine Seite gesagt hat: Ich habe verloren. Sie brennen lieber ihr eigenes Haus ab. Sie haben diese Seite, die zur Gewalt neigt. Sie verlieren nicht gern und weil sie nicht wissen, wie man verliert, gewinnen sie nicht…sie begehen Selbstmord. Genau dasselbe geschieht heute in Syrien, es war so in Beirut und in der ganzen Zeit seit dem Ersten Weltkrieg.“

Mit der Arabischen Apokalypse hat Etel Adnan ein universelles Werk geschaffen, archaisch und subtil, der Bericht von etwas, das „niemals war und immer ist“. Etel Adnan berichtet, befragt, beschreibt, öffnet, verdichtet durch die älteste, die elementarste Kunst jeder Zivilisation: die Poesie. 1980 veröffentlichte sie die Arabische Apokalypse auf Französisch, 1989 übertrug sie den Zyklus ins Englische. 2012 erschien die deutsche Übersetzung.

Etel Adnan, Arabische Apokalypse, Seite 69
Etel Adnan, Arabische Apokalypse, Seite 69

Durch die Ereignisse von 2011, den Arabischen Frühling und die weitergehenden, nicht kalkulierbaren Folgen im arabischen Raum, bekommen Etel Adnans poetische Texte eine bedrohliche Aktualität. Die libanesisch-amerikanische Dichterin, Philosophin und Malerin hat ihre Arabische Apokalypse mit Zeichnungen und Zeichen versehen, die integraler Bestandteil der Textfolge sind. Sie setzen Akzente, geben Atem, bestimmen den Rhythmus der Sprachbilder. Die Musiker Siegfried Rössert und Ulrich Müller – 48Nord – beziehen diese Bildzeichen in ihre Komposition ein und verbinden sie mit der Stimme von Etel Adnan und den in 3 Frauenstimmen gesetzten Poemen.

http://deutschlandradiokultur.de/neujahrshoerspiel-arabische-apokalypse.964.de.html?dram:article_id=268884

http://48nord.de